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Das Real Life Assessment

  • Autorenbild: Julian Maly
    Julian Maly
  • 23. Apr.
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 24. Apr.

Was aufmerksame Personalentscheider während des Auswahlprozesses über Kandidaten lernen können


Es muss nicht immer ein Assessment Center sein. Oft ergeben sich im Laufe des Auswahlprozesses Indikationen, wie Kandidat:innen später im Job agieren.


Ganz im Sinne von Watzlawick: Jede E-Mail, jedes Telefonat und jede Reaktion im Allgemeinen können als Real-Life-Assessments im Miniformat gesehen werden.

Wer genau hinsieht, kann aus dem Verhalten im Prozess wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Im Folgenden möchte ich anhand einiger Beispiele zeigen, worauf zu achten ist.



Vorweg: Vorsicht vor Überinterpretation


  • Atmosphäre

    Wie ich nicht müde werde zu betonen: In einer professionell-offenen Atmosphäre auf Augenhöhe gedeihen die wertvollsten Insights. Kandidaten können sich in einer dem Menschen zugewandten Atmosphäre öffnen und geben Einblicke in ihre Ambitionen, Ziele und Painpoints. Auch wenn man als Entscheider kantig nachfragt, Wertschätzung ist die Basis.


  • Verhältnismäßigkeit

    Stolperfallen einzubauen, nur um die Reaktion von Kandidaten zu testen, greift zu kurz. Ziel einer Evaluierung muss es sein, die Persönlichkeit in Situationen zu erleben, die möglichst nahe an den beruflichen Alltag kommen. Und letztlich muss sich der Arbeitgeber vice versa ebenso bewusst sein, dass auch Kandidaten einen Blick hinter die Kulissen erhalten sollten.


  • Ausgangssituation

    Der Blickwinkel bestimmt bekanntlich die Sichtweise. Soll heißen: Wenn die Initiative zu einem Kontakt vom Unternehmen (oder einem Headhunter) ausgeht, liegt auch hier die erste Bringschuld. Fehlendes Commitment beispielweise kann man jemandem nur attestieren, wenn das Interesse zuerst auch geweckt wurde.


  • Spezifität

    Je nach Berufsfeld unterscheiden sich die Kriterien nicht nur am Papier, sondern auch im Erleben. Einen Software-Spezialisten nach seinen Small-Talk-Skills zu beurteilen, geht zum Beispiel am Sinn der Sache vorbei. Bei der Evaluierung einer Sales-Rolle hingegen wäre es geradezu ignorant, diesen Maßstab nicht anzuwenden.


  • Achtung Spiegel!

    Actio est Reactio - Menschen spiegeln (bewusst oder unbewusst) das Gegenüber. Wenn ich als Personalentscheider schlecht gelaunt, genervt oder überarbeitet bin, hat das nicht nur Einfluss auf meine subjektive Wahrnehmung, sondern beeinflusst auch die Performance des Kandidaten. Dies sollte man immer im Blick behalten!


Allgemeine Kommunikation

Die Art und Weise, wie Kandidat:innen auch abseits der klassischen Interview-Situation kommunizieren, spricht oft Bände. Ob in E-Mails, Telefonaten oder in der persönlichen Begegnung – Klarheit, Ton und Professionalität sind entscheidend. Schon während des Bewerbungsprozesses bewertet man unbewusst, wie sich jemand ausdrückt. Spricht der Bewerber strukturiert und aktiv zuhörend? Drückt er sich höflich und präzise aus? Oder sind seine Nachrichten voller Tippfehler und Missverständnisse? Solche Details können auf die Arbeitsweise schließen lassen: Wer in der Bewerbung ungenau oder schludrig kommuniziert, zeigt womöglich auch im Job wenig Sorgfalt. Ein Mangel an Detailorientierung oder Vorbereitung in der Kommunikation deutet oft auf fehlende Aufmerksamkeit hin – und kann Probleme in puncto Gründlichkeit und Genauigkeit bei der Arbeit vorwegnehmen. Solche Red Flags sollten nicht als "Hintergrundmusik" abgetan werden.



Responsivität & Proaktivität

Gerade in der schnelllebigen Geschäftswelt ist zeitnahes Reagieren oft viel wert. Wie prompt ein Bewerber auf Einladungen, Rückfragen oder Aufgaben reagiert, signalisiert Engagement und Zeitmanagement. Ein Kandidat, der E-Mails innerhalb von Stunden beantwortet, zeigt Enthusiasmus und organisatorische Stärke. Zögert jemand jedoch tagelang ohne Rückmeldung, kann das Desinteresse oder Probleme bei der Priorisierung nahelegen. Gleiches gilt für Pünktlichkeit: Erscheint ein Bewerber verspätet zum Interview oder zum Probearbeiten, lässt dies auf schwache Terminplanung und mangelnden Respekt schließen. Solche Verzögerungen sind nicht nur ärgerlich – sie könnten sich als Muster im Arbeitsverhalten fortsetzen. Umgekehrt vermittelt Verlässlichkeit im Prozess (pünktliches Erscheinen, fristgerechtes Einreichen von Unterlagen) ein hohes Maß an Professionalität.



Lösungsorientierung

Kaum etwas sagt so viel über die Eignung aus wie der Umgang mit unerwarteten Problemen. Im Bewerbungsprozess zeigt sich oft, wer wirklich lösungsorientiert denkt: etwa wenn eine Aufgabe unvollständige Informationen enthält oder eine spontane Fachfrage auftritt. Ein lösungsorientierter Bewerber bleibt ruhig, analysiert die Situation und versucht, einen Weg nach vorn zu finden – notfalls durch Nachfragen oder kreative Ansätze. Diese Flexibilität, sich an wechselnde Umstände anzupassen und Unvorhergesehenes mit kühlem Kopf zu meistern, ist für viele Rollen auch im Arbeitsleben zentral. Wer hingegen bei der ersten Unklarheit ratlos wirkt oder sich über die Aufgabe beklagt, zeigt fehlende Anpassungsfähigkeit.



Entscheidungsverhalten

Bereits im Bewerbungsprozess treffen Kandidat:innen Entscheidungen – und auch diese können viel über ihre berufliche Eignung verraten. Wie jemand Entscheidungen fällt (schnell vs. zögerlich, überlegt vs. impulsiv) und kommuniziert, spiegelt oft seine spätere Arbeitsweise wider. Ein Bewerber, der transparent mit mehreren Jobangeboten umgeht und seine Entscheidung strukturiert abwägt, zeigt Verantwortungsbewusstsein. Ebenso problematisch: Kandidat:innen, die keine klaren Entscheidungen treffen (z. B. Zusagen hinauszögern oder einfach nichts mehr von sich hören lassen), könnten im Job bei wichtigen Entschlüssen zögern oder verbindliche Abmachungen scheuen.



Fragen

Die Fragen, die Bewerber selbst stellen, sind oft ein untrüglicher Indikator für Interesse, Vorbereitung und Denkschärfe. Stellt ein Kandidat am Gesprächsende gar keine Fragen, deutet das entweder auf Desinteresse oder fehlende Vorbereitung hin. Fragt er hingegen nur Oberflächliches, setzt er eventuell falsche Prioritäten. Die besten Kandidat:innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit ihren Rückfragen zeigen, wie aufmerksam sie zugehört haben und wie sehr sie an einem Fit zur Stelle wirklich interessiert sind. Solche Rückfragen können z. B. Details zur Teamkultur, zu Erfolgsmaßstäben der Position oder aktuelle Herausforderungen betreffen. Mutige Bewerber wagen es sogar, konstruktiv „den Spieß umzudrehen“ – etwa indem sie fragen, worin man im Gespräch noch Zweifel an ihrer Eignung sieht, oder was dem Interviewer an der Firma gefällt. Dieses gezielte Nachhaken signalisiert Selbstbewusstsein und echtes Engagement und bleibt bei Entscheidern positiv in Erinnerung.



Durchhaltevermögen

Ein Bewerbungsprozess sollte zwar so straff wie möglich organisiert sein, kann sich aber multikausal bedingt auch strecken: mehrere Interviewrunden, Assessments, vielleicht ein Probearbeitstag. Hier trennt sich oft die Spreu vom Weizen in Sachen Ausdauer und Belastbarkeit. Durchhaltevermögen zeigt sich beispielsweise daran, ob Kandidat:innen im Laufe des Prozesses an Motivation verlieren oder trotz wachsender Herausforderung dranbleiben. Wer selbst nach dem dritten Gespräch noch engagiert nachfasst und Interesse signalisiert, demonstriert eine wichtige Soft Skill: langfristige Persistenz und Frustrationstoleranz. Umgekehrt kann es vorkommen, dass anfangs euphorische Bewerber nach kleineren Rückschlägen – etwa kritischem Feedback in einer Case Study oder längeren Wartezeiten zwischen Runden – abrupt abspringen oder merklich nachlassen. Eine solche Kurzatmigkeit könnte im Job auf mangelnde Resilienz hindeuten: Wer schnell resigniert, erreicht seine Ziele seltener, gerade wenn Hindernisse auftauchen.



Weitere beobachtbare Faktoren im Prozess

Zusätzlich zu den genannten Aspekten gibt es weitere Verhaltensweisen, die im Bewerbungsprozess auffallen und Rückschlüsse auf die berufliche Performance ermöglichen:

  • Professionalität und Respekt: Wie geht der Bewerber mit allen Beteiligten um? Achtet er auf Höflichkeit gegenüber Assistent:innen oder Empfangspersonal – oder nur gegenüber der Geschäftsführung?

  • Integrität und Ehrlichkeit: Stimmt das, was im Lebenslauf steht, mit den Aussagen im Interview überein? Ungereimtheiten oder Beschönigungen fliegen oft schon im Auswahlprozess auf. Decken Referenzanrufe Unstimmigkeiten auf oder stellt man fest, dass der Kandidat falsche Angaben gemacht hat, untergräbt das unwiderbringlich Vertrauen. Wer bereits in eigener Sache nicht ehrlich ist, könnte auch im Unternehmen mit fragwürdiger Integrität agieren. Umgekehrt hinterlassen Kandidat:innen, die offen über Schwächen oder vergangene Fehler sprechen und dazu stehen, einen Eindruck von Glaubwürdigkeit – eine Schlüsselvoraussetzung für Teamvertrauen und Verlässlichkeit im Job.

  • Auftreten und kulturelle Passung: Schon während des Bewerbens kann man erahnen, ob jemand ins Team passt. Beobachtbar ist etwa die Körpersprache und Umgangsform: Wirkt der Kandidat zugeknöpft oder arrogant? Zeigt er Neugier auf das Team? Besonders aufschlussreich ist, wie Bewerber sich verhalten, wenn sie nicht glauben, beobachtet zu werden – etwa im lockeren Vorgespräch mit Mitarbeitenden oder beim Warten an der Rezeption. Einige Unternehmen holen bewusst Feedback vom Empfang oder zukünftigen Kollegen ein: War der Ton freundlich? Hat der Bewerber versucht, ein Gespräch zu beginnen? Solche Eindrücke abseits der offiziellen Fragerunde können Hinweise liefern, ob die Person ihr „bestes Gesicht“ nur dem Chef zeigt oder authentisch freundlich und teamfähig auftritt.



Eine Gratwanderung zwischen Strenge und Verhältnismäßigkeit


Für Entscheider gilt: Jedes Detail im Bewerbungsprozess kann ein Puzzleteil des Real Life Assessments sein. Vom ersten Telefonat bis zur Vertragsunterzeichnung haben Unternehmen die Gelegenheit, hinter die Fassade zu blicken. Natürlich sollte man keine vorschnellen Urteile fällen – einzelne Eindrücke können täuschen. Und nicht jeder Tag ist gleich. Doch in der Summe ergeben Kommunikation, Responsivität, Lösungsorientierung, Entscheidungsverhalten, Rückfragen, Durchhaltevermögen etc. oft ein klareres Bild als das Jobinterview alleine. Red Flags als solche zu erkennen und ihnen im weiteren Prozess konsequent nachzugehen, zeigt sich als Methodik regelmäßig überlegen im Vergleich zu Testbatterien und investigativem Ausfragen.


Wer all diese Indikatoren aufmerksam beobachtet, trifft Personalentscheidungen vorausschauend und auf Basis realitätsnaher Eindrücke. Letztlich zeigen Bewerber:innen im Prozess oft schon, wer sie wirklich sind – es liegt an uns, genau hinzuschauen und die richtigen Schlüsse zu ziehen.



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